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«Infrastruktur 2014»

Totalumbau – mit Abbau vieler Stellen und neuen Leuten?

Nach 100 Tagen im Amt kündete im April der neue Leiter Infrastruktur SBB, Philippe Gauderon, eine Neuausrichtung seiner Division an. Seither laufen die Projekte „Infrastruktur 2014“ und „Best Infrastruktur Overhead“ auf Hochtouren und sollen bereits ab Anfang 2010 umgesetzt werden. Gewerkschaftssekretär Urs Huber, Leiter des SEV-Teams Infrastruktur, nimmt dazu Stellung.

kontakt.sev: Warum legt der SEV grossen Wert auf gute Kenntnis der anrollenden Reorganisationswelle bei SBB Infrastruktur?

Urs Huber: Weil davon sehr viele Leute betroffen sind, nämlich von den rund 9000 Infrastruktur-Mitarbeitenden ganz sicher jene 6000, die nicht in der Betriebsführung arbeiten. Es drohen ein Arbeitsplatzabbau, Arbeitsortverschiebungen, Stellenprofiländerungen, mit denen sich für manche Mitarbeitende die Frage stellt, ob sie den neuen Anforderungen noch genügen, usw. „Infrastruktur 2014“ ist ein Totalumbau mit unzähligen Einzelprojekten, die normalerweise jedes für sich eine eigene Reorganisation mit einem eigenen Konsultationsverfahren darstellen. Parallel dazu läuft das Projekt „Best Infrastruktur Overhead“ mit vielen weiteren Massnahmen zum Kostensparen. Diese Reorganisation hat also eine riesige Dimension und ist sehr komplex. Dennoch schlägt die Projektleitung ein massives Tempo an.

Ist der Zeithorizont nicht 2014?

Der Zeitplan sieht die meisten Entscheide und Umsetzungen bereits in den nächsten zwei Jahren vor, so dass sich manche fragen, was man 2012 bis 2014 überhaupt noch machen will. Viele für die Zukunft sehr wichtige Entscheide werden jetzt gefällt.

Kann der SEV der Projektleitung solche Inputs geben?

Im Rahmen eines Begleitausschusses werden wir laufend informiert, aber auch nicht mehr. Bei den drei bisherigen Sitzungen blieb nach unzähligen Folien kaum mehr Zeit für Fragen oder Inputs zu heiklen Punkten. Daher haben wir dem Leiter Infrastruktur mitgeteilt, dass wir mehr und tiefere Infos und mehr Zeit für den Meinungsaustausch brauchen, und er hat sich damit einverstanden erklärt. Ob das nun so passieren wird, muss sich zeigen.

Muss die Infrastruktur wirklich reorganisiert werden?

Auch aus SEV-Sicht gibt es bei der Infrastruktur Abläufe und Bereiche, die verbessert werden können. Darauf haben wir in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen, ebenso auf Fehler bei den vielen Reorganisationen der letzten Jahre (siehe Grafik) – leider oft erfolglos. Auch bei der neusten Reorganisation haben wir Bedenken.

Kernforderungen des SEV

«Wir fordern Seriosität vor Tempo!»

«Bei jeder Stelle, die abgebaut wird, muss nachvollziehbar sein, warum dies nötig ist.»

«Diese Reorganisation muss mit den vorhandenen Leuten gemacht werden!»

«Die vorhandenen Mitarbeitenden müssen zum Erwerb der neu verlangten Qualifikationen die Chance und die nötige Zeit erhalten.»

«Ohne Not darf es in den Regionen keinen Kahlschlag geben!»

«Die Projektleitung muss die geltenden GAV-Regeln für Arbeitsbedingungen berücksichtigen.»

«Die nachfolgenden Einreihungsfragen dürfen nicht unterschätzt werden!»

Welche?

Den ehrgeizigen Zeitplan habe ich bereits erwähnt. Wir fordern Seriosität vor Tempo! Die meisten Mitarbeitenden werden auch so denken, sobald sie mehr wissen. Nur solange sie noch nicht viel wissen, wünschen sie sich vor allem, dass es vorwärts geht.

Will Philippe Gauderon zu viel auf einmal anpacken?

Auf jeden Fall birgt ein Totalumbau grosse Risiken für das Unternehmen, denn der Betrieb muss trotzdem reibungslos funktionieren. Die Öffentlichkeit registriert heutzutage jede Panne, also ist der Druck gross. Wir haben aber auch grundsätzliche Zweifel, ob Ideen aus der Industrie eins zu eins auf den Unterhalt im Bahnbereich übertragen werden können. Das erklärte Ziel der Projektleitung ist ja eine „Industrialisierung und Konzentration der Instandhaltung“ und das „Schaffen einer industriellen Bau- und Betreiberfirma“. Von diesem Ansatz sind wir nicht restlos überzeugt.

Warum nicht?

Weil sich der Bahninfrastrukturunterhalt von einem Industriebetrieb unterscheidet: Man kann Bahnanlagen, Brücken, Tunnels usw. mit einem Gesamtwert von rund 75 Milliarden Franken nicht einfach in eine Werkstatt hinein nehmen, sondern muss sie vor Ort unterhalten oder reparieren. Und dies muss oft auch nachts und an Wochenenden geschehen, damit der Bahnbetrieb möglichst ungestört weiterlaufen kann. Wenn eine Maschine in der Fabrik still steht oder das Einzelteil nicht rechtzeitig am Arbeitsplatz ist, ist das schlecht. Wenn das Gleiche heute bei der SBB passiert, ist es eine nationale Katastrophe, zumindest für die Passagiere, die Medien und die Politik.

Ein Ziel der Reorganisation sind klare Prozesse. Damit sollten immerhin die Verantwortlichkeiten klar sein...

Das ist sicher positiv und tönt auch gut. Es ist auch offensichtlich, dass bisher zuwenig aussagekräftige Kennzahlen vorhanden waren, um zu führen. Weil der Unterhalt eines ganzen Bahnnetzes aber sehr komplex ist und sich verschiedene Faktoren gegenseitig beeinflussen, besteht bei einer reinen Prozessstruktur die Gefahr, dass neue Schnittstellen entstehen. Manchmal hat man sowieso das Gefühl, Prozesse seien dazu da, bei Problemen Sündenböcke auf unteren Ebenen definieren zu können.

Was fordert der SEV von der Projektleitung konkret, ausser „Seriosität vor Tempo“?

Bei jeder abzubauenden Stelle muss nachvollziehbar sein, warum dies nötig sein soll. Mit «Infra 2014» könnten ganze Führungsebenen wegfallen, und mit «Best Infrastruktur Overhead» sollen 30 bis 50 Mio. gespart werden, und zwar zu zwei Dritteln beim Personal. Also sind mehrere 100 Stellen bedroht. Warum es «Best IO» noch braucht, wenn man mit «Infra 2014» dreinfährt, ist uns schleierhaft. Wir befürchten ein Hase- und Igel-Spiel, indem die SBB stets sagt: «Das ist jetzt gerade beim andern Projekt...»

Offenbar sollen von 1200 so genannten Overhead-Stellen 20% abgebaut werden. Gibt es dort wirklich Sparpotenzial?

Das muss man in jedem Fall genau anschauen. Ebenso, was als „Overhead“ oder „nicht produktiv“ hingestelltwird. Es gibt ja auch Kolleg/innen, die glauben, es habe an gewissen Stellen durchaus Sparpotenzial, und wir schliessen dies nicht aus. Vieles wurde sogar noch bei den letzten Reorganisationen hinzugestellt. Aber 20%, das scheint uns auf jeden Fall zu viel. Und Achtung, die Leute werden noch staunen, wer plötzlich als „Overhead“ ins Visier genommen wird.

Reorganisationen bei SBB Infrastruktur seit 1999: eine jagte die andere…

Die SBB betont, dass durch „Box-Moving“ auch ganze Geschäftseinheiten verschoben werden – was den Vorteil haben dürfte, dass sich dort der Personalbetreuungsaufwand in Grenzen hält?

Dieses „Box-Moving“ erscheint uns auch als Beruhigungspille. Damit wird bei vielen Leuten der Eindruck erweckt, bei ihnen passiere gar nichts. Andererseits ist „Box-Moving“ bei dieser Riesenkiste auch einfach nötig. Es ist aber ein grosser Fehler, dass beim Personalbereich (HR) ausgerechnet in diesem Sommer Stellen abgebaut und aus der Fläche abgezogen wurden – kurz vor dieser Infrastruktur-Reorganisation, die zu Tausenden neuen Arbeitsverträgen und vielen Fragen führen wird. Dies erleichtert die sorgfältige Umsetzung garantiert nicht.

Zurück zum Stellenabbau: Steht dieser nicht im Widerspruch zum Nachholbedarf bei der Infrastruktur, den der SBB-Chef auf eine Milliarde beziffert? Das bedeutet ja Mehrarbeit...

Ja, wir sagen klar, Arbeit ist genug vorhanden. Es gibt ja überall Ausbauprojekte, und wegen der stärkeren Netzauslastung ist auch mehr Unterhalt nötig. Grundsätzlich hat es für alle Arbeit; die Frage ist, ob die Leute am richtigen Ort (gemäss SBB-Definition) sind.

Und wenn Mitarbeitende für neue Stellen nicht die nötigen Voraussetzungen mitbringen?

Es ist dem SEV ein grosses Anliegen, dass auch sie mitgenommen werden bei dieser Reorganisation. Die Projektleitung legt fest, welche Leute mit welchen Skills (Fähigkeiten) idealerweise gebraucht werden. Dabei darf sie aber nicht vergessen, dass schon Mitarbeitende da sind, viele sogar schon sehr lange. Sie alle müssen zum Erwerb der neu verlangten Qualifikationen die Chance und die nötige Zeit erhalten. Es darf auch nicht sein, dass theoretische Anforderungen und externe Diplome das Mass aller Dinge sind, während in vielen Jahren erworbenes Know-how nichts mehr wert sein soll. Den Herren, die den Unterhalt industrialisieren und auf der grünen Wiese ein neues Unternehmen erfinden wollen, indem sie von oben Prozesse definieren und als sankrosankt erklären, muss klar gesagt werden: Diese Reorganisation muss mit den vorhandenen Leuten gemacht werden, sonst kommt sie nicht gut heraus!

Stimmt es, dass der Infrastruktur zurzeit viele Kader davonlaufen?

Offenbar gehen viele, weil alles hinterfragt wird und nicht alle den neuen Führungsstil mittragen. Auch wenn wir nicht allen nachtrauern, führt dieser „Gauderon-Effekt“ doch zu einem Know-how-Verlust, der bedenklich ist. Und SBB Infrastruktur muss aufpassen, denn in den Unterhaltsbereichen arbeiten auch viele Fachkräfte, die auf dem Markt gute Chancen haben und sich nicht alles bieten lassen.

An der von Gauderon angewandten Methode des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) sollte es aber nicht liegen, denn damit sollen ja gerade die Erfahrungen der Mitarbeitenden genutzt werden: Diese sollen sagen, wie es am besten gemacht wird...

Grundsätzlich ist diese Methode gut, doch kann sie in der Praxis auch zur Alibiübung werden, wenn die Befragten so ausgewählt werden, dass von Beginn weg klar ist, wie entschieden wird. Soll man den neuen Regionenleiter fragen oder den Spezialmonteur X? Wer bringt die Erfahrung mit, und auf welches Know-how legt man Wert?

Es wird auch gemunkelt, bei „Infrastruktur 2014“ seien „Zentralisierungsfreaks“ am Werk?

Sensibilität für regionale Stellen scheint nicht gegeben zu sein, daher hören sie es auch an jeder Sitzung von mir von Neuem: Ohne Not darf es in den Regionen keinen Kahlschlag geben! Auch Planungsarbeiten z.B. müssen nicht unbedingt zentralisiert werden!

Weitere SEV-Forderungen an die Projektleitung?

Sie muss die geltenden GAV-Regeln für Arbeitsbedingungen berücksichtigen. Wir sind nicht bereit, diese zu ändern oder gar zu verschlechtern, nur weil sich die Infrastruktur so reorganisiert, dass sie mit diesen Regeln neue Probleme bekommt.

Welche Probleme?

Im GAV steht zum Beispiel, dass die Arbeitszeit ab dem Arbeitsort gerechnet wird. Wenn nun Regionen vergrössert und so die Arbeitswege im Unterhaltsbereich verlängert werden, wird es teuer.

Und auch die nachfolgenden Einreihungsfragen dürfen nicht unterschätzt werden. Wenn Leute in neuen Funktionen arbeiten, dann werden aufwändige „Übungen“ zur Überprüfung der Einreihungen und Kriterienkataloge der Berufsbilder nötig. Das alleine wird noch viel Ärger geben.

Ich bin nicht sicher, ob sich SBB Infrastruktur der Folgen des geplanten Totalumbaus jenseits der abstrakten Prozessarchitektur wirklich bewusst ist. Wenn überall Stellenverluste in der Luft hängen, wenn Arbeitsorte herumgeschoben werden, wenn es plötzlich heisst: „Du bist der ‚Falsche’!“, wenn alle neue Ansprechpartner und neue Chefs haben, neue Arbeitsverträge und am Schluss neue Einreihungen brauchen – dann vernichtet dies enorm viel Energie!

Interview: Markus Fischer