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8. März: Internationaler Tag der Frau

«Die Berufswahl hängt weiterhin sehr stark vom Geschlecht ab»

Geneviève Hentsch kümmert sich hauptsächlich um den Dienstleistungssektor und die Frauengruppe ihrer Gewerkschaftsregion. Sie nennt hier die wichtigsten Forderungen der Frauen im Hinblick auf den Internationalen Tag der Frau.

Geneviève Hentsch in ihrem Büro bei der Unia in Neuenburg.

kontakt.sev: Was fordern die Frauen am 8. März 2012?

Geneviève Hentsch: Vor allem Lohngleichheit, aber auch Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Strukturen für die familienexterne Betreuung, Anerkennung der Teilzeitarbeit, Vaterschaftsurlaub, usw.

Sie sind bei Unia Neuenburg für die Frauengruppe verantwortlich. Was gehört da alles dazu?

Die Frauengruppe der Unia Neuenburg besteht aus aktiven Gewerkschaftsmitgliedern, die regelmässig zusammenkommen, um über Themen rund um die Frauen und die Arbeitswelt zu sprechen. Wir lancieren Projekte, die darauf abzielen, die Frauenanliegen in der Gewerkschaft sichtbar zu machen.

Bio

Geneviève Hentsch (35) ist in Yverdon aufgewachsen. Sie studierte in Neuenburg Ethnologie, Französisch und Soziologie und unterrichtete Französisch als Fremdsprache an verschiedenen Sprachschulen. Danach arbeitete sie in der Erwachsenenbildung und für den interkulturellen Dialog. Im Oktober 2006 übernahm sie bei der Unia-Region Bern ein gewerkschaftliches Aufbauprojekt im Hotel- und Gastgewerbe mit dem Ziel, in diesem Bereich den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu verbessern, Weiterbildungsangebote zu schaffen und ein Netz von Vertrauensleuten aufzubauen. Seit Anfang 2010 ist sie bei der Unia-Region Neuenburg Gewerkschaftssekretärin für den Dienstleistungssektor (Hotellerie und Gastgewerbe, Kindertagesstätten, Pharmazieassistentinnen usw.) und verantwortlich für die Frauengruppe. Geneviève Hentsch lebt in einer Partnerschaft und hat zwei kleine Kinder.

Von Lohnungleichheit ist oft die Rede, doch sie nachzuweisen, dürfte jeweils schwierig sein?

Schweizerische Statistiken zeigen klar, dass die Frauen im Mittel 20 % weniger verdienen als die Männer. Etwa die Hälfte dieses Lohnunterschieds lässt sich objektiv erklären: durch Unterschiede hinsichtlich der Ausbildung, des Arbeitspensums, der Anzahl Dienstjahre bzw. der Erfahrung, der Verantwortung usw. Da könnte man von im Voraus gegebener Ungleichheit sprechen: Oft sind es ja die Frauen, die ihre Karriere unterbrechen, wenn die Kinder kommen, die ihre Arbeitszeit reduzieren usw. Für die übrigen 10 % Lohnunterschied dagegen gibt es keine Erklärung. Diese Lohndifferenz ist rein diskriminierend. Diese Diskriminierung gibt es in allen Bereichen und auf allen Ebenen, doch sie ist im privaten Sektor und bei den höheren Kadern besonders offenkundig. In Tieflohnbranchen dagegen, wie beispielsweise im Hotel- und Gastgewerbe, ist der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen weniger gross.

Warum gibt es solche Unterschiede?

Sie sind nicht immer einfach zu erklären! Man weiss zum Beispiel, dass die Frauen sich weniger gut «verkaufen» und schlechter sind im Fordern von Lohnerhöhungen. Aber man schlägt ihnen auch oft tiefere Einstiegslöhne vor. Bewusst oder unbewusst neigen Unternehmensleiter dazu, Frauen zu einem tieferen Lohn einzustellen als Männer, bei gleichen Kompetenzen und Aufgaben. Weil der Lohn noch ein Tabuthema ist, geschieht es oft, dass gar niemand auf die Lohnunterschiede aufmerksam wird.

In den traditionellen Frauenbranchen werden durchs Band tiefe Löhne bezahlt. Warum?

In den Branchen, wo vor allem Frauen tätig sind (Detailhandel, Reinigung, Pharmazieassistent/innen, Coiffure, Kindererziehung, Hotel- und Gastgewerbe) hat der Gewerkschaftskampf nicht die gleiche Tradition wie in den Branchen, wo mehrheitlich Männer arbeiten (Baugewerbe, Handwerk, Industrie). Dies hat damit zu tun, dass während langer Zeit die Männer den grössten Teil des Haushaltseinkommens nach Hause brachten und somit dem «Haupterwerb» nachgingen. Die Männer haben dafür gekämpft, dass ihre Arbeit in ihren Branchen anerkannt und reglementiert wurde, insbesondere mittels Gesamtarbeitsverträgen (GAV). Die Frauen dagegen haben ihre Arbeit lange als «Nebenerwerb » betrachtet und ihrem Lohn daher weniger Bedeutung beigemessen. Sie haben sich später als die Männer gewerkschaftlich organisiert, und die Gewerkschaften haben sich auch erst später für GAV in den Frauenbranchen eingesetzt. Deshalb ist die Arbeit der Frauen häufig schlecht bezahlt – oder gar nicht bezahlt, was die Hausarbeit oder die Freiwilligenarbeit betrifft, die hauptsächlich von Frauen verrichtet wird.

Sind aber heutzutage Aktionen wie jene der kantonalen Gleichstellungsbüros zur Öffnung der technischen Berufe für die Mädchen nicht überflüssig geworden?

Nein, überhaupt nicht. Die Berufswahl hängt weiterhin sehr stark vom Geschlecht ab. Es gibt noch immer viele Vorurteile und Stereotype, die dafür sorgen, dass es weiterhin typisch weibliche und typisch männliche Berufe gibt. Die Mentalitäten entwickeln sich nur langsam weiter. Deshalb denke ich, dass es nicht überflüssig ist, die jungen Leute dazu zu ermutigen, diese Vorurteile hinter sich zu lassen und ihren Beruf völlig frei zu wählen.

Im Zusammenhang mit dem Tag der Frau hört man häufig die Forderung nach besserem Mutterschutz und einem besseren Angebot an Kinderbetreuungsstrukturen. Betrifft diese Problematik aber nicht beide Elternteile?

Doch, selbstverständlich! Gefordert wird übrigens auch eine Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs. Sich um die Kinder zu kümmern ist die Aufgabe beider Elternteile; beide sind von der Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Kinderbetreuung betroffen. Deshalb müssen die Arbeitszeitreduktion und die Teilzeitarbeit natürlich auch bei den Männern gefördert werden, damit sie einen Teil der Arbeit zu Hause übernehmen können. Zurzeit ist es noch immer eine Ausnahme, wenn ein Mann seine Arbeitszeit reduziert, um sich um die Kinder zu kümmern, während dies bei den Frauen als völlig normal angesehen wird.

Zurück zur Lohngleichheit: Eine Angestellte erfährt, dass sie weniger verdient als ihr Kollege, der genau die gleiche Arbeit macht. Was soll sie unternehmen?

Das seit 1996 geltende Gleichstellungsgesetz sollte es ihr ermöglichen, beim Arbeitgeber eine Lohnänderung zu erreichen. Aber im konkreten Fall ist es nicht einfach, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um diese Gleichstellung zu erreichen. Beim Chef vorzusprechen und den Finger auf einen Lohnunterschied zu legen oder gar ein gerichtliches Verfahren zu eröffnen verlangt viel Mut und Entschlossenheit und droht, das Arbeitsverhältnis zu belasten! Deshalb verlangen die Gewerkschaften die Einführung eines Systems, bei dem nicht die betroffenen Frauen, sondern die Unternehmungen dafür verantwortlich sind, die Lohnungleichheit zu beseitigen.

Was unternehmen die Gewerkschaften sonst gegen die zu tiefen Löhne der Frauen?

Die Mindestlohninitiative des SGB betrifft vor allem auch die Frauen: Man muss wissen, dass 70 % der Arbeitnehmenden, die weniger als 4000 Franken im Monat oder weniger als 22 Franken in der Stunde verdienen, Frauen sind. Das Prinzip des Mindestlohns hat sich übrigens im Kanton Neuenburg bereits durchgesetzt, denn es ist im November 2011 in einer Volksabstimmung angenommen worden. Ein anderes wichtiges Mittel zur Beseitigung der Benachteiligungen der Frauen ist die Verbesserung bestehender oder die Aushandlung neuer Gesamtarbeitsverträge (GAV) in Branchen, wo überwiegend Frauen arbeiten.

Wo sind Sie am 8. März?

Am Morgen verteilen wir im ganzen Kanton Neuenburg Rosen und Flugblätter an Ladenverkäuferinnen. Es handelt sich um eine landesweite Aktion der Unia im Detailhandel. Am Nachmittag führen wir in verschiedenen Städten des Kantons Standaktionen durch, um die Angestellten im Betreuungswesen (die in Unia und VPOD organisiert sind) beim Unterschriftensammeln für die Motion «Einführung eines GAV für den Kinderbetreuungssektor » zu unterstützen. Diese Motion soll am 30. März im Kantonsparlament eingereicht werden und verlangt, dass sich die Kantonsbehörden für einen neuenburgischen GAV für das Personal der Betreuungsstrukturen einsetzen.

Fragen: Henriette Schaffter / Fi

8. März: Internationaler Tag des Kampfes für die Frauenrechte

  • Der Tag der Frau hat (leider) bis heute nicht an Aktualität eingebüsst. Solange die Gleichstellung von Mann und Frau nicht erreicht ist, muss dieser Tag begangen werden. Die Frauenkommission des SEV führt frühmorgens eine Aktion in der Stadt Bern durch. Schwerpunktthema des Tages ist die Lohn(un)gleichheit.
  • Die Zwischenbilanz des von SGB, Arbeitgeberverband und Bund im März 2009 lancierten Lohngleichheitsdialogs war Ende 2011 durchzogen: Erst 9 Unternehmen hatten den Dialog erfolgreich durchgeführt, und bei 11 weiteren befand er sich noch in oder unmittelbar vor der Umsetzung, u.a. bei Bundesverwaltung und SBB.