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SEV-Präsidium

Auf Tuti folgt Hartwich

Höhepunkte des Kongresses vom 27. Oktober in Bern waren die Verabschiedung von Giorgio Tuti nach 14 Jahren als Präsident und die Wahl von Matthias Hartwich als Nachfolger. Finanzverwalter Aroldo Cambi wurde problemlos bestätigt, ebenso Christian Fankhauser und Valérie Solano als Vizepräsident:in.

Giorgio Tuti gratuliert seinem Nachfolger Matthias Hartwich.

Der Kongress in Videos und Fotos (klicken)

Nach der Verabschiedung von Giorgio Tuti (siehe unten) wurde der 55-jährige Matthias Hartwich mit grossem Mehr gewählt. Dieser weiss, dass es nicht einfach sein wird, in Giorgio Tutis «grosse Fussstapfen» zu treten. «Aber ihr geht ein beschränktes Risiko ein, weil ich höchstens acht Jahre Präsident sein kann, da man im SEV spätestens mit 63 Jahren in Pension gehen muss.»

Hartwich hatte bereits am Vortag Gelegenheit gehabt, sich an fünf Delegiertenversammlungen vorzustellen. Dennoch sagte er nochmals, warum und wie er beim SEV arbeiten will: «Ich habe 30 Jahre Gewerkschaftsarbeit hinter mir und habe gelernt, dass deren Herz die Mitglieder sind. Eine Organisation wie der SEV gehört nicht der Geschäftsleitung, dem Vorstand oder anderen Amtsträger:innen, sondern allen Mitgliedern. Der SEV wird von jedem einzelnen Mitglied getragen. Das gibt allen Amtsträger:innen die Gewissheit, der richtigen Sache zu dienen, und den Ansporn. (…) Ich wurde gefragt, wo man mich findet, wenn ich Präsident werde. Ich werde dort sein, wo es weh tut und wo ihr glaubt, dass ich sein soll und gebraucht werde. Das gilt für alle Amtsträger:innen, ob haupt- oder nebenamtlich. Das ist für mich das Wichtigste, bei den Mitgliedern zu sein. Sie müssen definieren, was sie brauchen und wichtig finden. (…) Mein Ziel ist es, dass wir so viel wie möglich vor Ort sind. Den SEV zu präsidieren bedeutet, der erste der Gewerkschaftssekretär:innen zu sein.»

Zwei Delegierte kritisierten, dass dem Kongress nur ein Kandidat zur Wahl stand, obwohl für eine «echte Wahl» mindestens zwei Kandidaturen nötig seien. Kongressvizepräsident Peter Käppler sagte, er verstehe diese Kritik, doch die Einerkandidatur sei nicht Absicht gewesen, sondern das Resultat eines Prozesses mit Spielregeln auch zum Schutz der Kandidierenden. Und der SEV-Vorstand, der die Basis repräsentiere, sei von Hartwich einhellig überzeugt worden. Dieser entspreche dem definierten Profil.

Auch die bisherigen Geschäftsleitungsmitglieder wurden souverän wiedergewählt. Finanzverwalter Aroldo Cambi wurde von VPT-Zentralpräsident Gilbert d’Alessandro vorgestellt: «Er ist rigoros und wir brauchen gesunde Finanzen, um unsere Aktionen und Streikfonds zu finanzieren.» Vizepräsident Christian Fankhauser erhielt von VPT-Vizepräsident René Schnegg Unterstützung: «Du bist stets gut vorbereitet, sprichst leicht verständlich und bist ein charakterstarker Gewerkschafter: Du lässt dich von den Direktionen nicht beeindrucken.» Nach seiner Wahl dankte Christian für das Vertrauen. «Gerne werde ich die Ärmel morgen wieder hochkrempeln und den Kampf fortsetzen!» Vizepräsidentin Valérie Solano, die am 1. Januar 2022 die Nachfolge von Barbara Spalinger angetreten hatte, wurde von ZPV-Vizepräsident Jordi D’Alessandro sehr gelobt: «Sie arbeitet professionell und diszipliniert, setzt sich unermüdlich für die Mitglieder ein und hat einen scharfen Verstand. Sie findet immer Lösungen, hat ein offenes Ohr für uns und ist voller Talent. Bei ihr ist die Zukunft des SEV in den bestmöglichen Händen. Ihr Stil ist neu, aber sie ist schon lange eine zentrale Figur unserer Gewerkschaft!» Nach ihrer problemlosen Bestätigung erinnerte Valérie daran, wie wichtig das «Wir» im Gewerkschaftskampf ist: «Das habe ich bei der Sektion TPG gelernt.» Danilo Tonina und Peter Käppler wurden als Präsident und Vizepräsident des SEV-Vorstands einstimmig wiedergewählt.

Stehende Ovationen für Barbara Spalinger und Giorgio Tuti

Der Tag stand auch im Zeichen des Abschieds. Obwohl Barbara Spalinger schon seit Ende 2021 pensioniert ist, wurde sie vom Kongress mit stehenden Ovationen geehrt. Giorgio Tuti erinnerte daran, dass sie 2008, als Pierre-Alain Gentil verstarb, darauf verzichtete, als Vizepräsidentin zurückzutreten. «Dafür bin ich dir bis heute dankbar. Du bist inhaltlich brillant und viel schneller als ich. An jedem Sonntagabend riefst du mich an, um über Gewerkschaften, den SEV und Politik zu sprechen, und wenn du mich nicht anriefst, tat ich es, um zu fragen: ‹Was ist los?› Vielen Dank für deine 20 Jahre beim SEV!» Barbara sagte: «Die Arbeit beim SEV war nie langweilig und manchmal stressig, aber ich habe dabei viel gelernt, das habe ich euch zu verdanken!»

Zu Beginn des Kongresses sagte Danilo Tonina: «Das ist ein historischer Moment, das Ende der Ära von Giorgio Tuti, der unseren SEV massiv beeinflusst hat.» Giorgios Ehrung dauerte fast zwei Stunden. Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes betonte: «Was du geleistet hast, ist beeindruckend. Die Arbeit des SEV unter deiner Führung ist einzigartig in Europa: Kündigungsschutz und ansehnliche Rentenleistungen bei der SBB, und das in einem Umfeld, in dem der Druck enorm ist! Du hast es mit deinem SEV geschafft, beim Verkehr einen Service public zu erhalten. Du warst auch im SGB eine wichtige Figur als Vizepräsident, der immer die richtigen Worte fand, um Spannungen abzubauen, und als Motivator!»

Gemäss Livia Spera, Generalsekretärin der ETF, ist Giorgio in Brüssel der «Schweizer, der Toskanisch spricht und so in der Lage ist, mit allen zu sprechen, ein Verbündeter, der alle eint!» Martin Burkert, Vorsitzender der deutschen Gewerkschaft EVG, sprach im Namen der deutschsprachigen Gewerkschaften in Europa: «Die internationale Solidarität ist für dich zentral. Im Jahr 2017 wurdest du einstimmig zum Vorsitzenden der ETF-Branche Bahn gewählt. Ohne dich gäbe es kein Women-in-Rail-Abkommen.» Er erwähnte auch ein wenig bekanntes Hobby von Giorgio, die Malerei. «Jetzt, wo du mehr Zeit hast, kannst du dich darin üben ...» Denn Giorgios Engagement für den SEV war enorm, wie Barbara Spalinger bestätigte: «Du hast deinen Job mit Leidenschaft gemacht und dich dabei wohlgefühlt! Die Mitglieder und die Menschen haben dich immer interessiert, für sie warst du rund um die Uhr verfügbar!» Von der aktuellen Geschäftsleitung charakterisierte Christian Fankhauser Giorgio als «guten Zuhörer, florentinischen Strategen und Humanisten, der für das gesamte SEV-Personal stets da war. Gewerkschaftlich hat der SEV dank dir an Sichtbarkeit gewonnen.»

Der rote Teppich der Basis

Zu sagen, dass die Milizgewerkschafter:innen Giorgio Tuti geschätzt haben, ist eine Untertreibung. Für den VPT sprachen René Schnegg und Elisabeth Küng «von einer fantastischen 20-jährigen Geschichte einer vorbildlichen Person mit ausserordentlichem Charisma beim SEV: Was bleibt nun?», während Gilbert D’Alessandro weinte. «Die Ankündigung, dass du nicht mehr kandidierst, war für viele von uns ein Schock», fügte LPV-Zentralpräsidentin Hanny Weissmüller hinzu. «Ich habe Glück, denn ich werde meinen Präsidenten bei meinen europäischen Mandaten behalten.» Ralph Kessler dankte Giorgio für alles, was er für das Zugpersonal getan hat, und überreichte ihm augenzwinkernd ein blaues T-Shirt mit ZPV-Stempel, das Giorgio seinerzeit kritisiert hatte, weil sein Blau in keiner Weise mit den Farben des SEV übereinstimmte ...

«Deine flammenden Reden geben uns Kraft!», sagte Marie-Jo Juillet vom AS Ouest. Marco Huber vom AS Ost ergänzte: «Die Sektionen lagen dir am Herzen. Während der 100-Jahr-Feier hast du vor dem SEV-Bus selber Würste grilliert. Bei Versammlungen war ich stolz, dich als Gast zu haben, aber das Essen musste verschoben werden, weil du gerne geredet hast.» Für Vanni Nembrini vom AS Ticino war Giorgio «ein Leuchtturm und wahrer Mensch!» Für den PV hielt Jean-Pierre Genevay fest, dass Giorgio «für sein Gegenüber immer voll präsent war. Dein Engagement war grenzenlos, das hat man bei den FVP gesehen.» TS-Zentralpräsident Sandro Kälin erlebte ihn als «planenden und jederzeit erreichbaren Präsidenten». Hans Ulrich Keller vom BAU hob sein «vorausschauendes Handeln und sein europäisches Engagement» hervor. RPV-Zentralpräsident Danilo Tonina bedauerte, «dass das Klonen in der Schweiz verboten ist; man hätte eine Ausnahme machen können, weil du einzigartig bist.» Für Yuri de Biasi vom RPV Ticino war Giorgio «ein Gesprächspartner, der dem Tessin zuhörte. Es wird schwierig sein, diese Verbindung in dieser Qualität beizubehalten. Im Tessin, das auf dem Weg von Solothurn in die Toscana liegt, wirst du immer mit offenen Armen empfangen!»

Zum Schluss war es der – ausgeloste – TPG-Sektionspräsident Vincent Leggiero, der dem so geschätzten Präsidenten ein Buch mit Widmungen der Delegierten und Fotos überreichte. Giorgio rang nach Worten. «Was soll ich sagen? Es stimmt, der SEV war mein Leben. Aber diese Ehrungen sind ein wenig übertrieben. Die Stärke des SEV seid ihr und alle Mitglieder!» Er dankte allen und zum Schluss ganz besonders seiner Familie, dem SEV-Personal, dem «SEV-Fan» Peter Bichsel und dem ehemaligen SEV-Präsidenten Ernst Leuenberger, dem Giorgio es zu verdanken hat, dass er es geschafft hat.

Vivian Bologna / Übersetzung: Markus Fischer

Weniger Kongresse: Ja – Tiefere Beiträge: Nein

Der Kongressantrag von Geschäftsleitung und Vorstand, ab 2024 nur noch alle vier Jahre einen zweitägigen Kongress durchzuführen und dazwischen jährlich mindestens eine SEV-Delegiertenversammlung, wurde klar angenommen. Zu Fragen Anlass gab vor allem dieses neue Gremium. Dazu und zu den sonst nötigen Statutenänderungen wird der nächste Kongress im Jahr 2024 das letzte Wort haben.

Spannend war die Debatte zum Antrag der Jugendkommission, den Beitrag für Mitglieder unter 30 Jahren für die nächsten vier Jahre zu halbieren. Denn obwohl der Vorstand ein Nein empfahl, war im Saal viel Sympathie dafür spürbar. Um das demographische Problem des SEV zu illustrieren, bat Benjamin Rohrbach von der Jugendkommission alle Delegierten aufzustehen, die in 15 Jahren pensioniert sein werden: Es waren viele … «Wir haben gerade mal 2000 Mitglieder unter 30, doch für die Werbung dieser Altersgruppe wirkt der aktuelle Beitrag abschreckend, auch weil die Einstiegslöhne im öffentlichen Verkehr zum Teil sehr tief sind», hielt Rohrbach fest. Trotzdem empfahl Finanzverwalter Aroldo Cambi nachdrücklich, «das Problem der Altersstruktur etwas gezielter und differenzierter anzugehen». Es gehe um Beiträge von rund 400 000 Fr. pro Jahr, deren Fehlen das schon bestehende strukturelle Defizit erheblich verschärfen würde. «Diese Rechnung blendet aus, dass die verstärkte Mitgliederwerbung die Ausfälle teilweise kompensieren würde», entgegnete Stefan Bruderer (LPV). «Das genau herauszufinden wäre genau die Aufgabe dieses Pilotversuchs.» Dennoch lehnten die Delegierten den Antrag mit 120 zu 83 Stimmen bei 26 Enthaltungen ab – wie zuvor schon diskussionslos den Antrag des VPT Zentralbahn auf Senkung des Beitrags für Pensionierte von heute 50 % auf 25 % des Beitrags für Aktive. Fi

Kongressanträge, Positionspapiere, TPG-Streik und Werbung

Wie bei den drei oben erwähnten Kongressanträgen folgten die Delegierten auch bei den sechs übrigen neuen Anträgen (siehe Präsentation in SEV-Zeitung Nr. 12/2022) der Abstimmungsempfehlung des Vorstands. Zusätzlich nahmen sie den dringlichen Kongressantrag des Unterverbands VPT an, der vom SEV angesichts des Personalmangels im öffentlichen Nahverkehr politisches Lobbying gegen Kürzungen der Finanzmittel für die Verkehrsunternehmen fordert. Wie vom Vorstand empfohlen erklärten die Delegierten auch mehrere Anträge früherer Kongresse für abgeschrieben, weil sie inzwischen ganz oder teilweise erfüllt sind oder nicht erfüllbar waren.

Die fünf Positionspapiere Gewerkschafts- und Vertragspolitik, Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit, Sozialpolitik, Digitalisierung sowie Verkehrspolitik wurden ebenfalls weitestgehend wie vom Vorstand vorgeschlagen verabschiedet. Trotz offensichtlichem Vertrauen in den Vorstand schauten die Delegierten aber genau hin: Beispielsweise schlug Max Krieg im Namen des PV Änderungen im sozialpolitischen Papier vor, die grösstenteils gutgeheissen wurden. Oder zum Antrag «Bessere Arbeitsbedingungen» des VPT brachte Florian Martenot vom VPT TPG ein, dass gewisse Kolleg:innen über zehnstündige Dienstschichten mit langer Mittagspause schätzen, weil sie so mit ihren Kindern zu Mittag essen können.

Der TPG-Kollege erhielt zusammen mit seinen Sektionskollegen eine Standing Ovation für den erfolgreichen Streik vom 12./13. Oktober, mit dem sie zeigten, wozu eine geschlossene Belegschaft fähig ist (siehe Artikel «Bessere Arbeitsbedingungen»). Geehrt wurden auch Fritz Haenni (VPT TPF) und Carmine Cucciniello (ZPV Basel), die in einem Jahr 70 Mitglieder geworben haben. Sie losten auf der Bühne die zwei Gewinner:innen der Hauptpreise für die Top-Werber:innen aus. Markus Fischer