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Barbara Spalinger: «Die ‹Action› wird mir fehlen»

Kongress 2017: Präsident Giorgio Tuti gratuliert Vizepräsidentin Barbara Spalinger zur Wiederwahl.

Mit Barbara Spalingers Pensionierung beginnt nicht nur für sie ein neues Kapitel, sondern auch für den SEV. Die erste Frau in der Gewerkschaftsleitung, der sie 18 Jahre angehörte, blickt auf ihren Werdegang zurück: In ihrer offenen Art spricht sie über ihre prägenden Erfahrungen, seien sie positiv oder negativ.

Das Abschiedsgespräch findet in ihrem Büro in Bern statt, wenige Tage nach der Verabschiedung durch den SEV-Vorstand. Offiziell verlässt sie den SEV erst Ende Januar 2022, nach insgesamt 20 Jahren Mitarbeit.

Barbara, am 26. November hat dich der Vorstand überraschend verabschiedet. Hast du wirklich nicht damit gerechnet?

Nein, das war eine riesige Überraschung. Der Film und die Aussagen der Vorstandsmitglieder haben mich sehr berührt. Es kamen so viele gemeinsame Erinnerungen zur Sprache. Zum Beispiel der Tanz des Rangierpersonals im Bahnhof Zürich im Jahr 2012, den Danilo Tonina erwähnte. Das war eine grossartige Aktion, an die ich gerne zurückdenke!

Aber auch die Aussagen der anderen Kolleginnen und Kollegen waren persönlich und authentisch und haben mich sehr gefreut. Für mich ist dieser Film ein grosses Geschenk, zeigt er doch, wie viel wir zusammen erlebt und erarbeitet haben.

Gilbert D’Alessandro hat darauf hingewiesen, dass du für seine Wahl zum Zentralpräsidenten des VPT verantwortlich bist …

Das ist nicht mein Verdienst! Eher das seines Vorgängers Kurt Nussbaumer, der den VPT öffnete und eine Branchenstruktur einführte. Damit war der Weg frei für die Integration der Gatu, der autonomen Busfahrergruppe. Und dass Gilbert als Gatu-Aktivist zum neuen Zentralpräsidenten gewählt wurde, zeigt eindrücklich, wie rasch der VPT sich wandeln konnte.

Wenn du zurückblickst, was sind deine schlimmsten Erinnerungen?

Eine sehr schwierige Zeit war für mich der Streik der Officine im März 2008. Ich war am ersten Tag des Streiks in Bellinzona und später auch noch und habe erlebt, dass Frauen in diesem Umfeld komplett untergehen. Sie bringen das Essen, die Männer halten die grosse Reden. Während Pierre-Alain Gentil und Giorgio Tuti ständig in den Medien präsent waren, hat mich nie jemand etwas gefragt, aber natürlich war ich wie meine Kollegen rund um die Uhr am Arbeiten. Wir suchten fieberhaft nach möglichen Lösungen, diskutierten mit den Kollegen vor Ort, mit der SBB, der Unia, der Politik. Ich hatte einige Aggressionen von verschiedenen Seiten einzustecken und es war für mich bitter zu sehen, wie in dieser Situation die klassischen Geschlechterklischees wieder da waren.

Und deine besten Erinnerungen?

Diese überwiegen klar. Highlights waren sehr oft die Diskussionen innerhalb der Sektionen oder an der GAV-Konferenz, die den Entscheidungen zu schwierigen und umstrittenen Themen vorangingen. Zu sehen, wie unsere Basisdemokratie funktioniert, hat mich immer sehr stolz gemacht. Aber auch Krisen, die rasche Reaktionen erforderten, habe ich gut in Erinnerung, so der Sonntag, an dem in den Zeitungen stand, die CGN werde demnächst Konkurs machen. Olivier Barraud hat sofort organisiert, dass die Mitarbeitenden auf den voll besetzten Schiffen um 15 Uhr laut getutet und die Schweizer Fahne eingerollt haben. Daraufhin folgte eine beispielhafte Mobilisierung, auch der Öffentlichkeit. Und: Die CGN gibt’s immer noch. Es gab natürlich auch Verhandlungserfolge: Da ist mir die Orange-Urteil-Geschichte in guter Erinnerung. Es ging darum, dass Mitarbeitende, die regelmässig Zulagen bekommen, diese anteilmässig auch in den Ferien zugut haben. Die SBB hat sich mehr als ein Jahr lang strikt geweigert, dies nachzuvollziehen. Ich habe elf Lokführer gefunden, die bereit waren, vor Gericht zu gehen. Das hat gewirkt: Es kam ein Anruf der SBB, dass sie nun bereit zum Verhandeln seien. Diese Verhandlung im kleinsten Kreis dauerte nur einen Nachmittag lang, dann war klar, dass es Nachzahlungen gibt, und die Lokführer konnten ihre Klagen zurückziehen!

Sowohl Gilbert als auch Giorgio haben den Rücktritt erwähnt, den du nach dem Tod von Pierre-Alain Gentil zurückgenommen hast. Was waren die Gründe dafür?

Als François Gatabin den SEV verliess, mussten die Dossiers innerhalb der Gewerkschaftsleitung neu aufgeteilt werden. Giorgio wollte die KTU nicht abgeben, also hätte ich die SBB-Dossiers übernehmen müssen. Ich selbst war damals für die Querschnittthemen zuständig. Ich traute mir zwar durchaus zu, das SBB-Dossier zu übernehmen, aber das war eine Zeit, in der ich dies erst mal den Zentralpräsidenten hätte beweisen müssen. Darauf hatte ich keine Lust, weshalb ich mich zum Rücktritt entschloss, um weiterhin das verkehrspolitische Dossier zu betreuen.

Aber du hast deine Meinung geändert ...

Im Spätsommer 2008, als Pierre-Alain Gentil starb, war Manuel Avallone ganz neu in der GL. Giorgio bat mich zu bleiben, damit in dieser Phase Kontinuität und Erfahrung gewährleistet seien. Das hat mir eingeleuchtet, und ich bin geblieben.

Hast du diesen Rücktritt vom Rücktritt bereut?

Nein, absolut nicht. Ich konnte so zusammen mit Giorgio, Manuel und Ruedi Hediger die angedachte Transformation des SEV weiterführen. Es war ein Generationenwechsel, der goldrichtig war. Wir haben viel erreicht, insbesondere konnten wir den Graben, der nach der gescheiterten Fusion mit der damaligen Gewerkschaft Kommunikation zwischen der Geschäftsleitung und den Zentralpräsidenten bestand, zuschütten und neue Strukturen aufbauen. Das war sehr spannend und hat auch Spass gemacht. Überhaupt: Wenn ich heute den SEV von 2001, als ich als Gewerkschaftssekretärin anfing, mit dem heutigen SEV vergleiche, so sind das Welten! Man kann sich kaum mehr vorstellen, wie anders es früher war. Damals gab es beim SEV Leute, die glaubten, ein Telefonat zwischen dem SEV-Präsidenten und dem SBB-Chef reiche aus, um alle Probleme zu lösen … Es gab viel Statusdenken und Verwalten, man war zwar an Sektionsversammlungen, aber eine Flächenpräsenz wie heute gab es nicht. Ich erinnere mich an eine Versammlung im Rheintal, an der mich der dieses Jahr verstorbene Hanspeter Eggenberger angemotzt hat, was ich eigentlich als eine, die nie bei der Bahn gearbeitet hat, dem SEV bringen könne. Ich glaube er hat inzwischen erlebt, dass ich das durchaus konnte, wir haben in den letzten Jahren sehr gut zusammengearbeitet.

Warum kamst du zum SEV?

Ich habe als Juristin beim Kanton Solothurn gearbeitet und kannte Ernst Leuenberger. Irgendwann verging mir die Lust an der Interessenabwägung und ich wollte Interessen vertreten, weshalb ich zum WWF Schweiz gewechselt habe. Dort kam dann plötzlich ein Angebot des SEV – es gab damals kaum Gewerkschaftssekretärinnen, und die Frauenkommission machte Druck für eine Frau in der Leitung. Mich hat diese Arbeit sofort sehr interessiert: Das Aushandeln von Arbeitsbedingungen und die Verbindungen zur Politik fand ich eine spannende Herausforderung. Und der öV lag mir als alte Berufspendlerin schon längst am Herzen.

Zurück zur Gegenwart: Wie siehst du die Sozialpartnerschaft heute?

Ich bin zunehmend unsicher, ob die Sozialpartnerschaft von der Branche als Chance begriffen wird. Dabei ist sie notwendiger denn je. Wer uns nur als «Stachel im Fleisch» ansieht, verkennt, dass wir nicht nur bremsen – was manchmal nötig ist –, sondern auch Änderungen erleichtern. Wir sind ja in aller Regel sehr konstruktiv, aber natürlich müssen wir auch mit harten Bandagen streiten können. Es ist schwierig, Arbeitgebern, die die Sozialpartnerschaft nicht gut kennen, zu erklären, dass wir uns unsere Forderungen nicht selber ausdenken. Und dass wir in Rollen sind und nicht sie als Personen meinen. Am Schluss muss man sich wieder in die Augen schauen können. Wenn dieses Verständnis fehlt, kann es schwierig werden.

In deinen 18 Jahren als Vizepräsidentin hast du zahlreiche Mobilisierungen und auch Streiks bei den KTU erlebt. Waren diese erfolgreich?

Oh ja, denn wenn wir am Verhandlungstisch nicht weiterkommen, reicht es manchmal bereits, dem Arbeitgeber in Erinnerung zu rufen, dass es seine Angestellten sind, die etwas wollen. Wenn sie das zeigen, so hat das auch eine Kraft. Dort, wo es zu richtigen Arbeitskämpfen kam, waren sie eigentlich auch immer mindestens teilweise erfolgreich. Ich habe den Streik bei der TPG im 2014 in bester Erinnerung, vor allem den Moment, als die ausgehandelte Vereinbarung um drei Uhr morgens von der Belegschaft mit Handaufheben bestätigt wurde. Das war sehr beeindruckend! Auch der fast dreiwöchige Streik in Locarno, der eine riesige Belastung für das Personal war, hat zu einem neuen Vertrag geführt. Allerdings: Wer auf die Barrikaden steigt, muss auch wissen, wie er wieder herunterkommt. Die Lösungssuche muss vom ersten Tag an Teil der Aktion sein, und die Mitarbeitenden, die letztlich entscheiden, müssen mitreden, das ist sehr herausfordernd!

Es gab auch Konflikte, die nicht gut endeten. Als ein neuer Arbeitgeber bei der Bodenseeschifffahrt die Arbeitsbedingungen des Personals von einem Monat auf den anderen massiv verschlechtert hat, haben wir die Chance verpasst. Da hätte gestreikt werden müssen.

In all diesen kritischen Situationen kommt sich eine Belegschaft sehr nahe. Und wir sind mitten drin. Das kann sehr anstrengend sein, aber auch wunderbar, denn letztlich macht die Nähe zu unseren Mitgliedern die Arbeit spannend und lohnenswert. Mir war in den letzten 18 Jahren nie langweilig bei der Arbeit!

Hast du Angst, dass du dich nach deiner Pensionierung langweilen wirst?

Nein, auch wenn ich wohl manchmal die «Action» vermissen werde. Ich weiss im Moment noch nicht, was ich von all den Dingen, die in den letzten Jahren zu kurz kamen, als Erstes machen will. Das wird sich aber rasch zeigen!

Vivian Bologna

Kommentare

  • Franco Luca

    Franco Luca 20/12/2021 11:04:19

    Un caro saluto e augurio a Barbara che ho avuto modo di conoscere in questi ultimi anni ed apprezzarne la capacità di gestione e mediazione, l'intelligenza e forza. Franco - SEV AS Ticino